Im Jahr 2024 finden in Sachsen mehrere Wahlen statt, die aufgrund der aktuellen politischen Situation noch längere Schatten werfen, als dies bei Wahlen ohnehin der Fall ist. Bis September wollen wir im JEWSLETTER immer wieder Informationen, Meinungen, Hinweise und eine jüdische Perspektive zu diesem Thema veröffentlichen und dies ist der erste Teil.
Seit Jahrtausenden organisieren sich Gesellschaften, um nicht nur Sicherheit und Verlässlichkeit in einer unsicheren Umwelt zu erhöhen, sondern auch den Zusammenhalt und im besten Fall die Gerechtigkeit zu stärken. Vereinfacht könnte man sagen, dass die Organisationsformen von Gemeinschaften eine Art Regierungssystem darstellen. Wie Regierungen gestaltet sind und wie sie gesellschaftliche Ziele erreichen, ist in verschiedenen Gesellschaftssystemen sehr unterschiedlich geregelt und wurde über Jahrhunderte immer wieder weiterentwickelt und angepasst.
Von großer Bedeutung ist dabei, wer unter welchen Bedingungen die Entscheidungsgewalt in einer Gesellschaft innehat. Darüber hinaus spielen die in den Gesellschaftsformen vorgesehenen Konfliktlösungen eine wichtige Rolle. Die Wirtschaftsform bzw. das Wirtschaftssystem ist für eine Gesellschaft vor allem deshalb von Bedeutung, weil es viel über das zugrunde liegende Menschenbild aussagt. Wirtschafts- und Regierungssysteme müssen nicht zwangsläufig den gleichen Gesetzmäßigkeiten folgen.
Schon mit durchschnittlichen Geschichtskenntnissen lässt sich erahnen, dass jedes politische System seine Vor- und Nachteile hat. In den allermeisten Systemen sind daher Methoden enthalten, die die Vorteile hervorheben und die Nachteile abmildern sollen.
Die vergleichende Bewertung verschiedener Gesellschafts- und Regierungssysteme ist schwierig, da das Ergebnis stark von den angewandten Kriterien abhängt. Solche Kriterien können z.B. sein: Wohlstand, Zufriedenheit, An- oder Abwesenheit von physischer Gewalt, Bildungsniveau, Freiheit, immaterieller Wohlstand, Traditionsverbundenheit und viele mehr. In Deutschland leben wir in einer Demokratie (in Kombination mit einer Wirtschaftsordnung, die sich "soziale Marktwirtschaft" nennt). Das bedeutet, dass alle Macht in unserer Gesellschaft vom Volk ausgeht, es ist der so genannte Souverän. Die praktische Umsetzung dieser Macht wird durch die Bestimmung von verantwortlichen Menschen für konkrete Aufgaben bewerkstelligt - den VolksvertreterInnen. Diese Bestimmung erfolgt in fast allen Bereichen durch allgemeine und freie Wahlen. Das Wahlprinzip ermöglicht es uns BürgerInnen also, unsere Rolle als Souverän auszuüben - es ist sozusagen unsere Art, die Gesellschaft zu regieren und zu gestalten.
Die Weitergabe unserer Anliegen an VolksvertreterInnen (seien es ehrenamtliche oder hauptberufliche PolitikerInnen) ist also die Lösung des Problems, dass für große Gesellschaften wie die unsere eine direkte Machtausübung durch den Souverän nicht praktikabel ist.
Diese Methode setzt unter anderem voraus, dass es einen allgemeinen Konsens darüber gibt, wer Teil der Gesellschaft und damit Souverän ist und wer nicht. Viele Staaten, Gemeinschaften, Länder, Völker und Nationen haben daher die Staatsangehörigkeit (oder einen ähnlichen Status) als Kriterium für das Wahlrecht festgelegt. Es ist jedoch leicht einzusehen, dass es Menschen gibt, die in einer Gesellschaft leben, an ihr teilnehmen und dort auch langfristig ihre Zukunft sehen, ohne die Staatsangehörigkeit dieser Gesellschaft zu besitzen. Vor dem Hintergrund, dass das Wahlsystem die Organisation der realen Gesellschaft leisten soll, ist es daher nur folgerichtig, darüber nachzudenken, wie diesen Menschen die politische Teilhabe ermöglicht werden kann. So erhält eine Gesellschaft durch Wahlen ein möglichst ausgewogenes und gerechtes Abbild ihrer tatsächlichen Verhältnisse.
Jeder von uns, der schon einmal einen demokratischen Prozess begleitet hat, hat die Erfahrung gemacht, dass die gewollte Vielstimmigkeit in der Demokratie zwar ihre Ziele der Gleichheit und Freiheit erreichen kann, der Prozess dorthin aber mit viel Mühe und manchmal auch Ärger verbunden ist. So müssen in einem idealen Prozess von allen Seiten Kompromisse eingegangen und damit von den eigenen Zielen abgewichen werden. Die daraus resultierenden Frustrationen werden noch dadurch verstärkt, dass wir in unserer Demokratie großen Wert darauf legen, eine zu große Machtkonzentration in einzelnen Händen zu vermeiden. Zu diesem Zweck haben wir eine Vielzahl von Gegenspielern installiert (z.B. Bund - Länder oder Gesetzgebung - Rechtsprechung), die das Handeln der jeweils anderen im Auge behalten und gegebenenfalls ausgleichend eingreifen können. Unsere historischen Erfahrungen haben uns gelehrt, dass es trotz aller vermeintlichen Vorteile zu riskant ist, zu viel Macht in die Hände weniger zu legen. Nicht zuletzt deshalb unterziehen wir uns immer wieder der Mühe des Kompromisses und der Verständigung, um die übergeordneten Ziele unserer Gesellschaft zu erreichen. Solche ausgleichenden Maßnahmen sind in vielen anderen Herrschaftsformen viel weniger oder gar nicht zu finden und das kann den Eindruck von Einfachheit und Effizienz auslösen, aber wenn wir unsere wichtigen Ziele von Freiheit und Gleichheit nicht aus den Augen verlieren, verflüchtigt sich dieser Eindruck schnell.
Schwächen
Eine Schwäche demokratischer Systeme besteht darin, dass in der Logik der Demokratie die Demokratie selbst durch den Souverän abgeschafft oder durch ein anderes System ersetzt werden kann. Das haben natürlich schon frühere Denkerinnen und Denker und ihre Gesellschaften erkannt und verschiedene Lösungen vorgeschlagen. In Deutschland wurde dafür der Begriff der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" eingeführt, die auch mit demokratischen Mitteln nicht verlassen werden darf. Es gibt also auch für den Souverän Regln, die nicht verhandelbar sind und eine systemische Stabilität gewährleisten sollen, ohne Fortschritt und Veränderung per se zu verhindern. Obwohl es sich dabei "nur" um die Lösung eines systemischen Problems - um eine Art Reparatur handelt - scheint es ein kluges Konzept zu sein und zudem eines, auf das sich die Mehrheit der Menschen in Deutschland bis heute gut einlassen kann. Das liegt unter anderem daran, dass es natürlich in jeder Richtung gleichermaßen vor der Etablierung ungerechter und unfreier Gesellschaftssysteme schützt.
Wenn also in diesem Jahr in Sachsen mehrere Wahlen anstehen, dann nehmen wir alle gemeinsam durch unsere Stimmabgabe unser Recht und unsere moralische Verpflichtung wahr, in unserer Gesamtheit ein guter Souverän zu sein. Der manchmal zynisch gebrauchte Spruch "Jedes Volk bekommt die Regierung, die es verdient" ist vor allem dann wahr und kann sich positiv auswirken, wenn ein möglichst großer Prozentsatz aller Wahlberechtigten von ihrer Wahlmöglichkeit Gebrauch macht.
All dies lässt uns erahnen, wie wichtig und bedeutsam das Wählen in einer und für eine Demokratie ist. Auch wenn wir selbst nur ein 80-Millionstel des Souveräns sind, ist unsere Stimme eben nicht unwichtig oder überflüssig. Besonders bedeutsam werden diese Zusammenhänge, wenn gesellschaftlich brisante Entscheidungen anstehen. Und das ist in diesen Jahren der Fall! Viele Werte und Orientierungen unserer Gesellschaft werden neu verhandelt, Klagen über eine Spaltung der Gesellschaft sind - teils übertrieben, teils zu Recht - im Umlauf, und von vielen Seiten hören wir, dass das Gefühl einer (Volks-)Gemeinschaft immer mehr verloren geht. Zum Glück gibt es viele Möglichkeiten, wie jede und jeder Einzelne von uns an dieser Neuorientierung und Wiederzusammenführung der Gesellschaft mitwirken und sie beeinflussen kann. Die mit Abstand wichtigste ist die Wahl, aber daneben lebt die Demokratie natürlich auch vom gesellschaftlichen Diskurs im Sinne von Veröffentlichungen in der Presse, Kommentaren, Abstimmungen in Schule, Beruf, Verein, Familie, Engagement im öffentlichen oder privaten Bereich, Diskussionen mit Familie, Freunden, Bekannten und der breiten Öffentlichkeit zu bestimmten Themen, Besuch von Informationsveranstaltungen und vieles mehr. Nichts davon ist nur Privatsache, sondern erfüllt zugleich die Aufgaben, die wir als guter Souverän jeder für sich und gemeinsam zu erfüllen haben. Natürlich muss sich jede und jeder nach ihren und seinen individuellen Möglichkeiten richten, aber Wählen ist für fast alle möglich (in diesem Zusammenhang sei auch noch einmal auf die mobilen Wahlurnen in Krankenhäusern und Seniorenheimen hingewiesen. Auch die Briefwahl oder die assistierte Stimmabgabe für Menschen mit Behinderungen sollen die Hürden zur Stimmabgabe so niedrig wie möglich halten).
Praktische Hinweise
In Sachsen sind neben deutschen Staatsbürgern, die seit mindestens drei Monaten in Sachsen gemeldet sind, unter bestimmten Voraussetzungen auch Bürger anderer EU-Staaten wahlberechtigt. Dabei sind die Hürden bei Kommunalwahlen meist niedriger als bei Landtagswahlen und dort wiederrum geringer als bei Bundestagswahlen. Menschen, die nicht aus der EU kommen, dürfen oft nicht wählen, Ausnahmen müssen mit den lokalen Gesetzen abgeglichen werden (z.B. abhängig vom Aufenthaltsstatus).
Unsere Empfehlung ist, in den nächsten Monaten besonders auf Informationsveranstaltungen zur Wahl und zu Wahlprogrammen zu achten, Diskussionen zu führen, Fragen zu stellen und kulturelle Veranstaltungen im Zusammenhang mit der Wahl zu besuchen. Und vor allem an den Wahlterminen die Wahl als oberste Priorität zu betrachten, denn Du darfst im Kollektiv des Souveräns nicht fehlen.
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