Ansprache zum Gedenken an den 87. Jahrestag der Novemberpogrome
- André Lang

- 12. Nov.
- 6 Min. Lesezeit
Am Sonntag, den 9. November 2025 fand in der Synagoge Dresden-Neustadt eine Veranstaltung zum Gedenken und Ausblick für die Opfer der Novemberpogrome statt. Die Kooperation von Herz statt Hetze e.V., Jüdischer Kultusgemeinde Dresden, Besht Yeshiva Dresden, dem Landesverband Jüdischer Gemeinden und Einrichtungen in Sachsen mit Unterstützung des Stadtteilrates Neustadt der Landeshauptstadt Dresden besuchten ca. 210 Menschen. Andrè Lang wählte folgende berührende Worte.
Liebe Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde,
Eigentlich, so könnte man sagen, ist zu diesem Tag – dem Jahrestag der Pogromnacht, die 1938, also vor 87 Jahren auch in Dresden begann – alles gesagt. Und doch müssen wir Jahr für Jahr wieder gedenken, erinnern, mahnen.
Wir gedenken heute aller Opfer des Naziterrors: der Jüdinnen und Juden, der Sinti und Roma, der Kommunistinnen und Kommunisten, der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, der Homosexuellen, der Behinderten, und auch der aufrechten Christinnen und Christen, die Widerstand leisteten. Euch und euer Leid werden wir niemals vergessen! Doch ebenso wenig dürfen und wollen wir die Täter vergessen – die Verantwortlichen und ihre willfährigen Vollstrecker. Erinnern müssen wir uns auch an die Mehrzahl jener Deutschen, die tatenlos der Judenverfolgung zusahen.
Ich spreche heute zu Ihnen als jüdischer Antifaschist, als Gemeindemitglied, als Mitinitiator der Initiative Herz statt Hetze und des Förderkreises Alter Leipziger Bahnhof. Mit dem Schicksal meiner Familie während der Nazizeit zähle auch ich zu den Betroffenen. Meine Mutter, ihre Eltern und Geschwister, ungarische Juden, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin lebten, konnten - auch Dank ihres ungarischen Passes- noch vor 1938 ins Exil fliehen. Auch meinem Vater gelang die Flucht nach Manchester, nachdem er aus der Haft entlassen wurde, die er für seinen Widerstand als junger Kommunist gegen die Nazis verbüßen musste.
Unsere in Ungarn lebenden, verbliebenen Onkel, Tanten und Cousinen meiner Mutter erlitten ein entsetzliches Schicksal. Nach dem Einmarsch der Deutschen im März 1944 wurden innerhalb von nur 54 Tagen nahezu eine halbe Million ungarische Juden in die Vernichtungslager deportiert und dort ermordet. Familienangehörige von uns wurden in den Konzentrationslagern Auschwitz und Bergen-Belsen ermordet.
Meine Eltern – dabei meine Mutter als einzige der Überlebenden ihrer jüdischen Familie – kehrten nach der Befreiung durch die Alliierten mit mir und meiner Schwester nach Ostdeutschland zurück, um beim Aufbau eines neuen, besseren Deutschlands mitzuwirken. Alle anderen Überlebenden der Familie, meine Großeltern, Tanten und Onkel blieben im Exil, überzeugt davon, dass es nie wieder ein anderes, ein besseres Deutschland geben würde. Meine Tante Thea, die als Angehörige der britischen Armee bei der Befreiung von Bergen-Belsen dabei war, emigrierte nach den furchtbaren Erlebnissen, die sie dabei erleben musste, gemeinsam mit ihrem Mann, einem amerikanischen Bomberpiloten, in die USA.
Meine Mutter erzählte oft bis ins hohe Alter aus der Zeit der Emigration in England. Sie war dort Mitglied der „Freien Deutschen Jugend“, die – anders als in der DDR geschrieben wurde – nicht erst 1946 in der damaligen SBZ, sondern bereits 1939 in England durch Emigrantinnen und Emigranten, gegründet wurde.
Mein Vater leitete dort einen Arbeitskreis zum Studium des wissenschaftlichen Sozialismus. Das erste Buch, das er meiner Mutter schenkte, war „Die Frau und der Sozialismus“ von August Bebel. Viele aus dieser Gruppe waren junge jüdische Flüchtlinge. Dabei auch jene, die zu den sogenannten Kindertransporten gehörten – Kinder, die 1939 in letzter Minute Deutschland verlassen konnten, jedoch ohne ihre Eltern. Es ist schwer vorstellbar, was damals auf den Berliner Bahnhöfen geschah, wie Eltern und Kinder sich schweren Herzens voneinander verabschiedeten. Die ihre Eltern und Großeltern nie wiedersehen sollten.
Bei den Zusammenkünften der jungen Emigranten wurde nicht nur über Politik diskutiert, sondern auch gelacht, gesungen, getanzt und Theater gespielt. In einem dieser Stücke spielte meine Mutter ein Emigrantenkind, das gerade in England angekommen war und einen Brief nach Hause schreibt. Dieses Gedicht, das sie bis zu ihrem 88. Lebensjahr noch auswendig konnte und immer als Zeitzeugin an Schulen in Dresden und Hoyerswerda vortrug, möchte ich Ihnen heute vorlesen. Ein Gedicht, dass, wie sie sagte, zu ihrem Lebenslauf gehörte:
Gestern bin ich in Manchester angelangt, die Menschen waren sehr nett. Ich habe mich auch immer höflich bedankt, um zehn Uhr ging ich zu Bett. Ich lag so steif wie ein Stock, in mir war alles so dünn. Am Stuhl hingen Strümpfe und Unterrock, die sind noch aus Berlin.Man darf hier auf dem Rasen spazieren gehen – selbst wenn man Jude ist. Die Lady sagt: Komm, Kind, spiel’ und lauf’. Ich setze mich ganz still hin, stütze den Kopf in den Händen auf und dachte an Berlin.
Karl, der Sohn vom Hausportier, hat mir damals Adieu gesagt. Mach’s gut, Mädchen, bis ich dich wiederseh – das hat er wirklich gewagt. Ich weiß, wovon der Junge träumt, mein Vater nennt das einen Spleen. Am Tag, wenn der Nazi-Spuk aufgeräumt, möchte ich so gerne dabei sein, obwohl ich eine Jüdin bin. Wenn Karl und die anderen die Stadt befreien – das ist dann mein Berlin.
Waren es wirklich Karl und die anderen, die Berlin befreiten? Nein! Es waren nicht die Berliner, die ihre Stadt befreiten, sondern die Alliierten.
Und heute? Ist das wirklich wieder mein Berlin? – Mein Dresden? – Mein Heimatland? Haben sich die Träume meiner Eltern erfüllt? – Ich würde sagen: Ja und nein.
Ja, der Faschismus wurde besiegt. Dabei haben sich auch Jüdinnen und Juden aktiv am Kampf gegen ihn beteiligt – ob Tante Thea in der britischen Armee, ob jüdische Freiwillige im Spanischen Bürgerkrieg oder wie Stefan Heym in der US-Armee. Auch Juden, die in der Roten Armee dienten, haben mit die Deutschen vom Faschismus befreit.
Können wir deshalb heute aufhören, uns zu erinnern? Nein, solange Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit in unserem Land wieder erstarken, bleibt unsere Aufgabe bestehen: zu erinnern, zu mahnen und zu handeln. Und wenn ich heute auch im Namen meiner verstorbenen Eltern spreche,dann möchte ich ihre Antwort auf die Frage, ob sich ihre Hoffnungen erfüllt haben, mit zwei aktuellen Zeitungsüberschriften verdeutlichen.
In der Sächsischen Zeitung vom 8. november 2025 stand auf Seite 1:
„Antisemitismus muss bekämpft werden. Am 9. November 1938 entlud sich der Judenhass in einer Pogromnacht. Heute erstarkt der Antisemitismus in Deutschland wieder. Das dürfen wir nicht zulassen.“
und auf Seite 10 der gleichen Zeitung zu Susanne Dagen, Mitglied der AFD Fraktion, der wohlgemerkt stärksten Fraktion im Dresdner Stadtrat:
„Mit Rechten lesen – Einst war Susanne Dagen Dresdens wichtigste Buchhändlerin. Dann äußerte sie sich politisch. Heute ist sie mit einer rechten Buchmesse in Halle an der Saale am Ziel angekommen.“
Diese Buchmesse – man mag es kaum glauben – findet ausgerechnet heute am 9. November statt. Es ist einfach nicht zu fassen!!! Ein Glück, dass meine Eltern das nicht mehr erleben mussten.
Ich frage euch: Warum treten nicht alle demokratischen Fraktionen des Dresdner Stadtrates und des sächsischen Landtages gemeinsam für ein AFD Verbot ein?! Was muss noch passieren, damit eine vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestufte Partei verboten wird? Wollen wir etwa zulassen, dass bei uns die Nazis wieder über die Parlamente an die Macht kommen? Das hatten wir doch alles schon mal 1933!
Da frage ich mich schon: Ist Dresden, ist Sachsen, ist Deutschland – noch mein Land? Ist es das richtige Land für mich und meine Familie? Und wenn nicht – wohin sollten wir dann gehen?
Zurück nach England, wo erst kürzlich in meiner Geburtsstadt Manchester zwei Juden vor der Synagoge ermordet wurden?
Oder in die USA, wo die Familie meiner Tante Thea lebt, und wo heute Politiker wie Trump und Musk die demokratischen Werte abschaffen wollen?
Oder nach Israel, welches sich seit seiner Gründung 1948 immer wieder seinen arabischen Nachbarn, insbesondere den Hisbollah aus dem Libanon, den Hamas in Gaza oder dem iranischen Terrorregime erwehren muss?
Wohlgemerkt: Ich bin kein israelischer Staatsbürger. Wäre ich das, hätte ich Netanjahu niemals gewählt. Ich würde zu jenen hunderttausenden Israelis gehören, die wöchentlich für Freiheit und Demokratie in ihrem Land auf die Straße gehen. Ganz klar: Die Bombardierung des Gaza Streifens mit 40.000 Toten, darunter unschuldige Kinder und Zivilisten, löst keines der Probleme. Aber: Am 7.10.2023 waren es die Hamas, die 1.300 Jugendliche, Kinder, Frauen und Alte ermordeten und verschleppten. Und auch das ist meine ganz persönliche Meinung: Wer heute Rufe wie „Free Palästina - von the river to the sea“ unterstützt, stellt sich auf die derer, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Das ist israelbezogener Antisemitismus und diesen lehne ich ab!
Die Palästinenser haben wie die Israelis ein Recht auf einen eigenen Staat - wir sollten uns deshalb gemeinsam für die Zweistaatenlösung einsetzen! Und auch das gehört zur Wahrheit: Neben dem Nahen Osten gibt es in Afrika, Südamerika, dem Mittelmeer viele Menschen, für die wir aktive Solidarität zeigen sollen und müssen. Unter uns sind heute meinen Freundinnen Amrei, Dörte, Barbara und Rita, die sich seit Jahren bei Mission Sealife für geflüchtete Menschen einsetzen, egal welcher Nationalität, ethnischen Herkunft oder Religion sie angehören. Das ist gelebte Solidarität - danke auch euch dafür!
Und ja, ich bin überzeugt, wenn es notwendig wäre, würden sie mich und meine Familie vor diesen wieder erstarkenden Antisemiten, Rechtsextremisten und Rassisten beschützen. Und deshalb bleibe ich mit meiner Familie hier - weil es euch gibt, euch alle, die ihr heute Abend dabei seid und weil es sich lohnt, gemeinsam zu kämpfen.
Ich danke euch ganz herzlich, dass ihr mir so lange zugehört habt - das musste ich einfach an diesem Tag sagen. Ihr müsst nicht alles, was ich gesagt habe, so sehen wie ich, aber ich hoffe, in den wesentlichen Dingen sind wir uns einig.






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