„Komm, den Frieden wecken…“
- Akiva Weingarten
- vor 42 Minuten
- 5 Min. Lesezeit
Drascha für den ökumenischen Abschlussgottesdienst der Friedensdekade in der Lutherkirche Radebeul am 19. November 2025
Liebe Gemeinde, liebe Freundinnen und Freunde,
wir haben uns heute am Ende der ökumenischen Friedensdekade versammelt, an einem Tag, der in Sachsen traditionell dem Innehalten, der Umkehr, der Besinnung gewidmet ist. Ein guter Tag, um über Frieden zu sprechen. Ein guter Tag, um Frieden zu wecken.
Der Titel dieses Gottesdienstes lautet: „Komm, den Frieden wecken…“
Das klingt, als läge der Friede nicht einfach bereit, als sei er etwas, das schläft, verschüttet, vergessen. Etwas, das Menschen manchmal nicht mehr in sich spüren. Etwas, das geweckt werden muss. Und tatsächlich: Frieden ist nie selbstverständlich. Frieden ist nie einfach vorhanden. Frieden ist immer eine Aufgabe.
In der jüdischen Tradition lesen wir in dieser Woche die Parascha Toldot, die Geschichte von Isaak und Rebekka, von Esau und Jakob. Es ist keine einfache Geschichte. Es ist eine Familiengeschichte voller Spannung, Konkurrenz, Verletzung. Zwei Brüder, die nicht zueinanderfinden. Ein Vater, der den einen liebt. Eine Mutter, die den anderen liebt.
Auf den ersten Blick ist Toldot alles andere als eine Friedensgeschichte. Und doch steckt in ihr ein tiefes Bild für die Herausforderung, mit der wir auch heute leben: wie schwer Frieden ist, wenn Menschen aneinander vorbeileben, wenn Misstrauen wächst, wenn Geschichten nicht ehrlich erzählt werden, wenn alte Konflikte weitergegeben werden wie ein Erbstück.

Und dann gibt es in der Parascha eine kleine, oft übersehene Episode: Isaak zieht ins Land der Philister und gräbt die alten Brunnen seines Vaters Abraham wieder aus, Brunnen, die verstopft und verschüttet wurden. Die Weisen fragen: Warum erzählt die Tora das? Was interessiert uns ein paar Brunnen voller Sand?
Nach der chassidischen Lehre wird das Graben von Brunnen als Metapher für die Suche der Patriarchen nach dem Göttlichen verwendet, das heißt nach Wasser in der materiellen Realität, also im Erdreich. Abraham hatte das Privileg, Gott in der Welt zu begegnen, das heißt Wasser, aber nach seinem Tod war dieser Weg versperrt. Isaak musste den Weg seines Vaters wieder aufnehmen und nach Wasser suchen, um die Erleuchtung zu erlangen, die seinem Vater zuteil geworden war. Die Philister verschlossen die Brunnen, da sie nur die materielle Realität kannten. Das Graben der Brunnen durch Isaak symbolisiert seine Bemühungen, den Weg seines Vaters wieder aufzunehmen. Parallel zur Rückkehr auf den Weg seines Vaters Abraham grub Isaak andere Brunnen, das heißt, er entdeckte weitere Wege im Dienst Gottes, entsprechend seiner einzigartigen Natur und seinem Charakter. Die Moral der Geschichte ist, dass jeder seinen eigenen Brunnen graben muss, das heißt den für ihn passenden Weg im Dienst Gottes finden muss, entsprechend seiner einzigartigen Natur und seinem Charakter.

Isaak musste dreimal Brunnen graben. Die ersten beiden Male stritten sich die Philister mit ihm um die Brunnen, und erst beim dritten Mal konnte er das Wasser in Ruhe genießen. Diese Brunnen stehen für Frieden. Frieden entsteht nicht, indem man Neues aus dem Boden stampft. Frieden entsteht, indem man das Alte wieder freilegt, das Verstopfte entfernt, das Verdrängte ans Licht bringt. Frieden entsteht, wenn man unter der Oberfläche sucht und das Wasser findet, das Leben schenkt.
Vielleicht ist das ein Bild für unsere Welt, in der wir zu oft nur die Konflikte sehen, die Gewalt, die Schreie, die Schlagzeilen. Aber tief darunter fließt ein anderes Wasser: die Fähigkeit des Menschen zur Güte, zur Begegnung, zum gegenseitigen Verständnis.
Frieden muss geweckt werden, so wie Isaak die Brunnen weckt, indem er sie wieder öffnet.
Im Chassidismus gibt es ein berühmtes Bild: In jedem Menschen brennt ein kleiner Funke des Ewigen. Er kann verschüttet sein, verdeckt, vergessen, aber er verlöscht nie.
Rabbi Nachman von Breslow sagte: „Suche in jedem Menschen einen kleinen Punkt des Guten. Und wenn du ihn findest, wird er wachsen.“ Vielleicht ist dieses Bild das spirituelle Gegenstück zu den Brunnen der Tora. Auch in der Welt gibt es diesen Funken. Auch in uns selbst. Manchmal schläft er. Manchmal scheint er erloschen. Aber er ist da, und er kann geweckt werden. Frieden beginnt dort, wo wir den Funken im Anderen sehen. Auch dort, wo wir ihn nicht sofort sehen wollen. Auch dort, wo Geschichte schwer ist. Auch dort, wo die Beziehung zerrissen scheint, wie zwischen Jakob und Esau.
Vor einigen Wochen hatten wir hier in dieser Kirche die besondere Gelegenheit, miteinander an einem Projekt teilzuhaben, das mir persönlich sehr am Herzen liegt: das Schreiben einer neuen Tora für Dresden. Viele von Ihnen haben selbst einen Buchstaben mitgeschrieben oder einen Buchstaben unterstützt. Und wir haben hier eine Ausstellung, die heute zu Ende geht, in der wir zeigen konnten, wie die Tora entsteht, Buchstabe für Buchstabe, Abschnitt für Abschnitt. Im Zohar heißt es: Jede Seele Israels hat einen Buchstaben in der Tora. Und so wie eine einzige fehlende oder beschädigte Stelle eine ganze Tora unkoscher machen kann, kann ein einziger Riss in der Beziehung zwischen Menschen eine ganze Gemeinschaft verletzen.
Aber auch umgekehrt: Wenn eine Gemeinschaft zusammenkommt, um Buchstaben zu schreiben, entsteht etwas Heilsames. Es entsteht Verbindung. Es entsteht gegenseitiges Vertrauen. Es entsteht Frieden. Dass dieser Prozess, das Schreiben eines jüdischen heiligen Textes, in einer evangelischen Kirche stattfinden durfte, mitten in Sachsen, war selbst ein Zeichen. Ein Brunnen, der wieder geöffnet wurde. Ein Funke, der geweckt wurde.
Ich möchte Ihnen allen im Namen der jüdischen Gemeinschaft danken.
Ein besonderer Dank an unsere Freunde Pfarrer Christoph Heinze und Achim Elicker, die dies ermöglicht haben. Diese Kooperation zeigt: Frieden ist möglich, wenn Menschen sich gegenseitig Räume öffnen.

Wir stehen in einer Zeit, in der Kriege wieder brennen, in der Hass zunimmt, in der jüdische Menschen auch in Deutschland wieder Angst haben, sich zu zeigen. Es ist eine Zeit, in der viele das Gefühl haben, dass der Friede wirklich schläft: tief, schwer, vielleicht zu tief.
Doch diese Friedensdekade erinnert uns: Frieden lässt sich wecken. Frieden muss geweckt werden. Nicht durch große Worte allein. Nicht durch politische Programme allein. Sondern durch kleine, konkrete, beharrliche Schritte:
durch das Hinschauen auf die Wunden der Vergangenheit,
durch das Freilegen der Brunnen,
durch das Erkennen des Funkens im Anderen,
durch das Hören aufeinander,
durch das gemeinsame Tun.
Die Geschichte von Jakob und Esau endet nicht in Feindschaft. Nachdem viele Jahre vergangen sind, begegnen sie einander wieder. Jakob hat Angst. Er erwartet Rache. Er erwartet einen Konflikt. Aber Esau fällt ihm um den Hals. Und Jakob sagt einen der schönsten Sätze der ganzen Tora: „Dein Angesicht zu sehen ist wie das Angesicht Gottes zu sehen.“ Das ist Frieden. Nicht das Vergessen der Vergangenheit. Sondern das Überwinden der Angst. Das Wiederfinden des Funkens Gottes im Anderen.
Liebe Gemeinde,
heute rufen wir gemeinsam: „Komm, den Frieden wecken…“ Mögen wir den Mut haben, Brunnen wieder freizulegen. Mögen wir den Funken im Anderen erkennen. Mögen wir hier in Radebeul, in Dresden, in Sachsen, in Deutschland, in der ganzen Welt Menschen sein, die Frieden nicht nur wünschen, sondern wecken. Denn Friede ist kein Zustand. Friede ist eine Berufung. Eine Aufgabe. Ein Weg. Und diesen Weg können wir nur gemeinsam gehen.






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