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AutorenbildKai Lautenschläger

Wir müssen reden

Wo immer mehr als zwei Menschen zusammenkommen, kann es zu Konflikten kommen - und wenn man lange genug wartet, wird es das auch. In unserer jüdischen Gemeinschaft wird sogar immer wieder damit kokettiert, dass Konflikte uns als Fetisch dienen, als ob z.B. jüdische Gemeinden ohne Streit nicht wirklich existieren könnten. In den letzten 2-3 Jahren sind durch viele Veränderungen in der jüdischen Gemeinschaft in Dresden und Sachsen einige dieser Konflikte wieder sehr spürbar geworden (Neugründungen von Gemeinden in Dresden und Leipzig,


Foto von Nikola Johnny Mirkovic auf Unsplash
Foto von Nikola Johnny Mirkovic auf Unsplash

Wechsel im Vorstand der Hasenberggemeinde, laufende Sanierung der Neuen Synagoge, die Möglichkeit, gemeinsam mit der Stadt eine größere jüdische Einrichtung in Dresden zu etablieren und vieles mehr). Ob wir wollen oder nicht: es ist immer wieder und immer noch unsere Aufgabe, uns diesen Konflikten zu stellen und alles zu tun, um sie so zu klären, dass ein friedliches und im besten Falle fruchtbares Zusammenleben nicht nur nicht unmöglich ist, sondern auch Realität wird. Und damit sind wir mitten im Thema.


Es beginnt damit, wie wir mit Konflikten und deren Lösung umgehen, denn dabei führen bekanntlich verschiedene Wege zum Ziel. Während die einen Konflikte möglichst undramatisch darstellen wollen, suchen andere die Klärung strikt unter sich, quasi im Hinterzimmer, ohne Beteiligung der jüdischen und nichtjüdischen Öffentlichkeit. Wieder andere bevorzugen eine klare Ansprache unter Einbeziehung der Öffentlichkeit, und wenige ziehen eine polemische Auseinandersetzung auf dem Marktplatz vor. Schon hier scheiden sich oft die Geister. Solche und viele andere Unterschiede können wir aber auch nutzen, wenn wir sie zunächst einmal anerkennen: es gibt verschiedene Wege, Konflikte zu lösen, und alle haben ihre Berechtigung. Mir mag die eine oder andere Methode mehr oder weniger gefallen, aber ich kann anerkennen, dass andere eine andere Wahl treffen. Wenn uns das gelingt - als erster Schritt -, dann haben wir auch hier die Vielfalt auf unserer Seite. Es wird Dinge geben, die im Hinterzimmer besprochen werden, und Dinge, die auf offener Bühne ausgetragen werden. Es wird Artikel, Diskussionen und Veranstaltungen geben, die sich auf die Gemeinschaft und das Gemeinsame konzentrieren, so dass jeder von uns die Möglichkeit hat, sich auf seine Weise in die Konflikte einzubringen und gemeinsam auf breiter Basis neue Lösungen zu finden.


Wenn wir diesen ersten Schritt als Beispiel für viele weitere nehmen, könnte das schon ein gangbarer Weg sein.


Die Jüdische Kultusgemeinde Dresden sieht sich nicht in der Position, anderen Menschen vorzuschreiben, wie sie ihr Judentum zu leben haben. Weder die Gemeinde als Ganzes noch einzelne Gemeindemitglieder - seien sie religiös motiviert oder in der Gemeindeorganisation tätig - können dies tun. Diese Haltung hat nichts mit Verzicht zu tun, sondern mit der tiefen Überzeugung, dass Toleranz und gegenseitige Anerkennung der Schlüssel zu einem guten Zusammenleben sind. Deshalb erleben wir die Vielfalt in unserer Gemeinde und in der gesamten jüdischen Gemeinschaft als Bereicherung und Schatz. Wir sehen dies auch in der jüdischen Tradition durch viele unterschiedliche Zugänge, Lebensstile und Lebensweisen in hunderten von kulturellen Kontexten, in denen Jüdinnen und Juden fremde Sitten, Gebräuche, Ansichten und Kultur in die Tradition des Judentums aufgenommen und ebenso ihren Einfluss auf die sie umgebenden Kulturen hinterlassen haben. Wir glauben, dass der Druck zu innerer Anpassung und Assimilation innerhalb des Judentums, insbesondere wenn er von außen (bewusst oder unbewusst) erwartet oder gefordert wird, uns Jüdinnen und Juden nicht gut tut.


Eine häufig geäußerte Kritik an diesem Ansatz ist, dass zu viel Toleranz leicht in Beliebigkeit abgleiten und damit Werte und Traditionen verraten könne. Das ist in der Tat eine Gefahr, der wir uns bewusst sind. Wir begegnen ihr mit zwei wichtigen Überlegungen und Maßnahmen. Einerseits verbinden wir uns tagtäglich mit unseren Traditionen, indem wir sie entweder befolgen oder uns kritisch mit ihnen auseinandersetzen, und andererseits fordern wir die gleiche Toleranz und Anerkennung von anderen für uns ein, sowohl von jüdischen als auch von nichtjüdischen PartnerInnen. Daraus folgt, dass es uns nicht gleichgültig ist, ob und inwieweit wir als gleichberechtigt angesehen werden. Da wir uns in der glücklichen Lage befinden, eine sehr lebendige, junge und wachsende Gemeinde zu sein, sind wir allerdings nicht unbedingt auf Anerkennung von außen angewiesen.


Foto von Charles Lamb auf Unsplash
Foto von Charles Lamb auf Unsplash

Das gibt uns die Freiheit, unser Judentum so zu leben, wie es unserer Tradition entspricht und wie wir es für richtig halten. Diese Freiheit gilt sowohl für die Gemeinde als Ganzes als auch für jedes einzelne Mitglied. Deshalb brauchen wir auch nicht um Anerkennung oder Gleichberechtigung zu kämpfen, sondern werden unseren Weg gelassen und selbstbewusst weitergehen. Dabei wollen wir uns ausdrücklich daran messen lassen, dass wir auf unserem Weg andere Akteure der jüdischen Gemeinschaft weder verletzen noch missachten. Inzwischen gibt es wieder so viele Jüdinnen und Juden in Dresden, dass es nicht mehr notwendig ist, sich in allen Fragen einig zu sein, und doch nicht genug, um sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ansätzen nicht in die Quere zu kommen.

In einer idealen Welt wünschen wir uns, dass alle Jüdinnen und Juden in Dresden ohne große Schwierigkeiten das finden, was sie in der Gemeinschaft suchen, und dass jede und jeder mit Neugier und Interesse die Wege der anderen verfolgt und gelegentlich auch daran teilnimmt.


Um dies zu erreichen, bedarf es aus unserer Sicht einer vorbehaltlosen Begegnung, die alle Beteiligten dort abholt, wo sie sich selbst verorten, ohne darüber schnell und hart zu urteilen. Dies ist immer dann schwierig, wenn es bereits tradierte, unausgesprochene oder persönliche Konflikte gibt. Immer dann, wenn wir um den heißen Brei herumreden oder glauben, uns verbiegen zu müssen, vielleicht um das Gegenüber zu schonen, fangen wir an, nicht mehr ehrlich miteinander zu sein. Ehrlichkeit ist aber nicht nur das Schwierigste an der Konfliktlösung überhaupt, sondern auch eine notwendige Voraussetzung für substantielle Fortschritte.


Natürlich wissen wir, dass Misstrauen oder Ablehnung gegenüber anderen Positionen und Überzeugungen nicht aus dem Nichts entstehen und in der Regel eine eher längere als kürzere Vorgeschichte haben. Wir wissen auch, dass von niemandem erwartet werden kann, dass er die Erfahrungen, die er mit seinem Gegenüber gemacht hat, ignoriert. Dennoch scheint es in der gegenwärtigen Situation hilfreich zu sein, genau dieses Experiment miteinander zu wagen. Dabei geht es nicht darum, Wünsche und Erwartungen von außerhalb unserer Gemeinschaft zu erfüllen, und es gibt sicher auch keinen Grund zur Eile. Die Überwindung innerer Gegensätze, das Aufgeben einer Festungsmentalität ist, wie wir es derzeit auch in der Gesellschaft erleben, eine schwierige, aber für die Zukunft wichtige Aufgabe, die in Ruhe und ohne Druck erfolgen sollte. Sicherlich sind wiederholte Anläufe ein wichtiger Teil der dafür notwendigen Geduld.


Wir haben die Erfahrung gemacht, dass mit einem solchen gegenseitigen Umgang auch schwierige Konflikte, z.B. um die Verteilung von Geld, Macht oder Ansehen, wesentlich konstruktiver angegangen werden können. Keiner von uns braucht für seine Existenzberechtigung oder sein Selbstverständnis zwingend die Anerkennung der anderen, aber das Zusammenleben und -wirken wird mit jedem Stück Toleranz leichter und erfolgreicher.

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1 commentaire


ccd2824
22 mai

Lieber Kai, ein Text, der mich sehr beeindruckt hat. Ich finde mich auch in ihm wieder. Danke.

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