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AutorenbildKai Lautenschläger

Tradition und Wandel?

Zur Parascha Toldot. In der biblischen Erzählung blieb der Kinderwunsch vieler Vorfahren zunächst unerfüllt, so auch bei Isaak und Rebekka. Sie blieben schließlich nicht kinderlos, wie uns die Parascha Toldot berichtet. Im Gegenteil: Sie bekamen die Zwillinge Esav und Jakob (der spätere Israel), die die jüdische Geschichte in vielerlei Hinsicht historisch und vor allem symbolisch tief geprägt haben. So wurde der Konflikt und die Versöhnung dieser beiden Brüder später oft mit den Beziehungen zwischen Rom und Israel verglichen, die wiederum oft auch für das Christentum und das Judentum standen.


Doch wenden wir uns einem intimeren Thema zu: Der Kinderlosigkeit und späteren Fruchtbarkeit von Rebekka und Isaak. Kinder zu haben ist bis heute eine bedeutsame und sehr persönliche Erfahrung im Leben von Menschen - und dazu gehört auch die Entscheidung gegen die Elternschaft oder die Unfähigkeit, Kinder zu bekommen. Aus den Beschreibungen in der Tora und aus historischen Beobachtungen wissen wir, dass Kinderreichtum vor vielen tausend Jahren ganz pragmatisch in vielen Lebensbereichen von noch viel größerer Bedeutung war, auch für das eigene Überleben. Das Thema Kinderlosigkeit wird in der Tora wohl auch aus diesem Grund häufig angesprochen. Durch die jahrhundertelange männliche Interpretation des Schicksals von Rebekka, Isaak, Esav und Jakob sind wir es gewohnt, die Gründe für Kinderlosigkeit bei der Frau zu suchen. Ihr wurde das Leid unerfüllter Sehnsüchte wie selbstverständlich zugemutet, während es als inakzeptabel galt (und manchmal immer noch gilt), die männliche (Zeugungs-)Kraft in Frage zu stellen.


Heute wissen wir, dass die Gründe für ungewollte Kinderlosigkeit nur wenig seltener bei Männern als bei Frauen liegen (ca. 4:6). Wenn die Zahlen in biblischen Zeiten ähnlich verteilt waren, stellt sich die Frage, ob wir nicht einen wichtigen Teil der Erkenntnisse und Deutungen über die Erwählung dieser Familie von außerordentlicher Bedeutung verloren haben.


Von den Altvorderen ist da wohl keine Hilfe zu erwarten. Oder doch? Rav Nachman bar Yaakov (d. 320 CE, Amora der 3. Generation in Babylon) und Rabbi Isaac Nappaha (3.-4. Jh. CE, Amora der 2. Generation in Galiläa) verstanden, dass Isaak unfruchtbar war. Sie bemerkten, dass es heißt "Und Isaak bat den Herrn gegenüber seiner Frau" statt "für seine Frau" und schlossen daraus, dass zumindest Isaak oder beide unfruchtbar waren. Er habe nicht nur für seine Frau, sondern offensichtlich auch für sich selbst beten müssen.


Eine weniger präzise, aber dennoch offenere Haltung wird im Midrasch deutlich, der in den Worten „gegenüber (לְנֹכַח, lenochach) seiner Frau“ las, dass Isaak sich an einer Stelle niederwarf und Rebekka an einer anderen (ihm gegenüber), und er betete zu Gott, dass alle Kinder, die Gott ihm geben würde, von dieser gerechten Frau kommen würden, und Rebekka betete ebenso.


Nach den Lehren der Rabbinen begnügte sich Rebekka aber auch nicht mit einer passiven Opferrolle, sondern suchte nach Rabbi Isaak aufgrund der Klage "Warum bin ich so?“ die Häuser anderer Frauen auf und fragte sie, ob sie ähnliches Leid erfahren hätten. Und durch Rabbi Haggai wissen wir von Rabbi Isaaks Einschätzung, dass Rebekka eine Prophetin war, die kein Medium brauchte, um die Antwort des Ewigen zu erhalten, nachdem zu lesen steht: „Und sie ging hin, den Herrn zu befragen“ (Gen 25,22).


Der zeitgenössische Hebräischprofessor Robert Alter (*1935) vermutet, dass Rebekkas Schrei der Ratlosigkeit und Angst in Gen 25,22, „Warum lebe ich“ (zu ihrer schwierige Schwangerschaft), sprachlich äußerst knapp gehalten ist. Er schlägt vor, dass Rebekkas Worte sogar als abgebrochener Satz interpretiert werden könnten - „Warum bin ich dann ...??“. Auch diese Lesart beleuchtet weniger die suizidale Verzweiflung als vielmehr die Sinnsuche. Was ist Rebekka dann - für uns als Leser?


All diese Gedanken sprechen nicht von einer Frau, die Opfer eines göttlichen Willens oder einer gesellschaftlichen Zuschreibung ist, sondern von einer Frau, die das Heft des Handelns fest in der Hand hält.


Was kann uns dieser Blick auf die Interpretationen unserer Vorfahren (und Zeitgenossen) Neues eröffnen? Mir ist während meines Studiums klar geworden, dass es nicht nur wichtig ist, die Tora immer wieder zu studieren und zu interpretieren. Es lohnt sich auch, die Aussagen der Rabbinen, Weisen und Gelehrten immer wieder zur Hand zu nehmen. Denn sie bergen Überraschungen und Einsichten, die die Herausforderungen auch unserer Zeit erstaunlich gut verständlich machen. Ziel unseres Lernens ist es ja, die Lehren auf unser konkretes Leben in unserer konkreten Zeit zu übertragen. In diesem ständigen Wandel liegt die Kraft und Anpassungsfähigkeit, die unser Judentum über Jahrtausende hat bestehen lassen. Diese Entwicklung weiterzuführen, ohne die Grundlagen zu verlieren, ist eine große Verantwortung für jede und jeden von uns.

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