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AutorenbildKai Lautenschläger

Warum lernen wir zu Schawuot?

Manchmal vergessen wir die offensichtlichen Fragen. Zum Beispiel die, warum mit Schawuot eine Nacht lernen „gefeiert“ wird. Wenn ich meine Kinder frage, ist Lernen – z. B. in der Schule nicht deren Lieblingsbeschäftigung. Für viele von uns ist Lernen eher ermüdend und anstrengend. Nicht für alle, aber Etwas mit Lernen zu feiern kommt trotzdem nur Wenigen in den Sinn.


Natürlich gibt uns unsere Tradition verschiedene antworten auch auf diese Frage. So war zum Beispiel in einer Welt harter Lebensbedingungen und schwerer Arbeit das Lesen, Lernen, Studieren und Diskutieren sich eine willkommene Abwechselung. Vor allem wenn es durch Gesang und Tanz unterbrochen wurde. Das darf man bestimmt nicht vergessen. Der Brauch ist seit dem späten Mittelalter bekannt, soll aber vereinzelt auch vorher schon vorgekommen sein.


Zuckersüss und sehr nachvollziehbar ist auch der Midrasch, nachdem wir am Tag der Übergabe der Tora am Berg Sinai (es war ja schon die Wiederholung) verschlafen haben und Mosche uns wecken musste. Damit uns so etwas Peinliches nicht nochmal passiert, bleiben wir wach und beschäftigen uns schon mal mit dem Thema des kommenden Tages. Sicher ist sicher.


Ein weiterer Grund ist, dass die Lesart an Pessach seien wir körperlich befreit worden und 50 Tage danach folge nun zu Schawuot die seelische oder geistliche Befreiung für viele Menschen sehr viel Sinn ergibt. Diese seelische Befreiung ist gekoppelt mit dem Empfang der Tora vom Ewigen aus den Händen Mosches. Sie liegt nicht allein in deren Inhalt und Bedeutung sondern auch in der Eigenschaft als Bund mit dem Ewigen, den wir – ohne das Kleingedruckte überhaupt zu lesen – freimütig angenommen haben. Das ist ein in vielfacher Hinsicht kaum zu glaubenden Ereignis. Welcher Gott ist schon seinem Volk in der sichtbaren Welt erschienen und überhaupt – welche Göttin hat sich ein eigenes Volk ausgewählt? Welcher Gott macht sich die Mühe sogar zweimal, weil beim ersten Mal Volk und Prophet die Geduld miteinander verlieren? Welche Göttin kennt ihr Volk so gut, dass sie quasi in vorausschauender Weisheit ein Gesetzbuch verfasst, das zum Bund gereicht und gleichzeitig die Lehre beinhaltet, wie wir unser Leben gestalten können? Und zu guter Letzt: Welches Volk sagt begeistert ja zu einem Regelwerk, dass es noch gar nicht kennt? Hat dieses Volk den Verstand verloren? Ging es um religiösen Wahn? Hat es sich um falsche Hoffnungen auf ein schnelles Ende der Wüstenwanderung gehandelt?


Wir können all das nicht beantworten. Religiöser Wahn scheidet wohl aus angesichts der Haltbarkeit der übergebenen Lehre in der Welt. Die Fragen, die wir versuchen können zu beantworten sind solche zum Inhalt der Lehre und zu deren Bedeutung für unser Leben. Denn wir haben nicht nur die Tora, sondern auch Talmud, Mischna und alle anderen Texte erhalten. Es gibt die Vorstellung, dass das gesamte schriftliche und mündliche Werk und all seine Erklärungen, Deutungen und Erläuterungen am Sinai übergeben wurden und früher habe ich das immer für einen intellektuellen Trick gehalten, um die Bedeutung der mündlichen Lehre und späterer Werke der Autorität der Tora anzugleichen. Ich dachte, es sollten dadurch Diskussionen über von Menschen verfasste Texte vermieden – oder besser unterdrückt – werden. Heute denke ich manchmal, dass die Tora, wie alle Texte erst in ihrer Interpretation den Weg in das lebendige Leben finden und deren Deutung nicht nur ein wichtiger, sondern auch ein definierender Bestandteil ihrer BE-Deutung ist. Wenn es so ist, dann ist im Text die Deutung schon mitgedacht und damit auch die vielen Midraschim, Deutungen, Erklärungen und „Ausführungsbestimmungen“ die der Tora in den Jahrhunderten zur Seite gestellt wurden. Insofern kann man auch sagen, dass sie mit der Tora übergeben wurden.


Wie jedes Gesetzeswerk oder jede Lehre kann auch die Tora nur überleben, wenn Sie lebendig bleibt. Lebendig bleibt sie aber nur, wenn Sie durch Deutung und Interpretation in unser jeweiliges Leben dringt. Jede Generation hat dabei andere Lebensrealitäten, Herausforderungen und Perspektiven, von denen aus sie die Texte deutet und deren Inhalte auf das aktuelle Leben anwendet. Und das heißt, dass jede Generation diese Deutung erneut und frisch vornehmen muss, sich dabei auch auf die Vorarbeit der Vorfahren stützend und gleichzeitig die Fragen unserer Zeit stellend. Vor der Interpretation stehen jedoch das Lesen und das Studium. Nur wer die Texte kennt, ihre Struktur, ihre Geschichten und Geschichte, ihren Auftrag, ihr Anliegen, ihre Sprache, - nur die und der kann sie deuten und damit lebendig machen.


Ich wünsche mir für unsere Generation, dass wir diese Prüfung bestehen werden

und für heute Abend, dass wir uns einen kleinen Schritt dieses Weges einer angenehmen Pflicht gemeinsam gehen werden.

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