Die Bedeutung von Opfern
- Kai Lautenschläger
- 3. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Zu Beginn dieses Monats lesen wir die Parascha Wajikra, in der es vor allem um Opfer geht. In biblischer Zeit und besonders zur Zeit des Stiftzeltes war das Judentum noch ein reiner Opferkult. Das bedeutet dass die Kommunikation mit dem Ewigen nicht im direkten Gespräch oder vorwiegend mit Worten stattfand. Stattdessen wurden Opfer gebracht, deren Natur festgeschrieben waren, um die Vermittlerrolle der Priester nicht zu groß werden zu lassen und gleichzeitig sicher zu gehen, dass die Priester sich sorgten. Sie waren für die richtige Anwendung und Interpretationen bei Unklarheiten zuständig.

Erst viel später - heute wird die Zerstörung des zweiten Tempels als endgültiges Datum angesehen - kam es zu einer Verschiebung von Opfern hin zu Gebeten und direkter Kommunikation mit dem Ewigen. Das Verhältnis zwischen uns und ihm wurde dadurch persönlicher und enger. Es zwang uns als Gemeinschaft auch, die Bildung des Einzelnen ernster zu nehmen, um auch diejenigen Anfragen, Beschwerden und Bitten an den Ewigen auf solide Beine zu stellen, die keine Priester waren. Wir dürfen nicht vergessen, dass in der damaligen Zeit viele ganz reale und existentielle Geschehnisse ausschließlich als Ausdruck des Willens des Ewigen verstanden wurde. Und immer dann, wenn wir nicht ganz verstehen, wie etwas genau funktioniert, ist es nur menschlich auf keinen Fall etwas falsch machen zu wollen. Rabbi Walter Rothschild vergleicht in seinem Buch der Honig und der Stachel die Neigung zu vielen Regeln im Judentum mit der heutigen Notwendigkeit, Dinge wie Atomkraftwerke hochgradig zu reglementieren, um uns ein gewisses Gefühl der Sicherheit zu geben.
Obwohl wir heute Beten anstatt zu opfern sind rituelle Opfer nicht nur historische Relikte, sondern tragen auch tiefere spirituelle Bedeutungen, die bis in die Gegenwart wirken. In unserer Parascha werden fünf Arten von Opfern beschrieben:
Brandopfer (Ola): Diese Opfer werden vollständig verbrannt und symbolisieren die Hingabe der Gläubigen an den Ewigen. Das Feuer, das das Opfer verzehrt, steht für die totale Auslieferung und den Wunsch, dem Ewigen zu gefallen.
Speiseopfer (Mincha): Diese Opfer bestehen in der Regel aus feinem Mehl und Öl. Sie sind Ausdruck von Dankbarkeit und Anerkennung der Güte des Ewigen. Das Mincha wird oft als eine Art Opfer für den täglichen Lebensunterhalt betrachtet.
Friedensopfer (Schelamim): Diese Opfer dienen der Gemeinschaft und dem Frieden. Sie werden in einem festlichen Rahmen dargebracht und ermöglichen es den Gläubigen, gemeinsam zu essen und zu feiern. Dies fördert den sozialen Zusammenhalt und die Gemeinschaft unter den Gläubigen.
Sündopfer (Chatat): Diese Opfer werden für unabsichtliche Sünden dargebracht. Sie symbolisieren die Reue und den Wunsch nach Versöhnung mit dem Ewigen. Die Idee hinter dem Chatat ist, dass selbst unabsichtliche Verfehlungen eine Beziehung zum Ewigen belasten können.
Schuldopfer (Ascham): Diese Opfer sind für bewusste Vergehen gedacht und zielen darauf ab, Wiedergutmachung zu leisten. Sie zeigen die Verantwortung des Individuums für sein Handeln und den Wunsch, die Beziehung zum Ewigen wiederherzustellen.
Bereits im Talmud (Yoma 5b) wird betont, dass der Ewige nicht an den physischen Opfern interessiert ist, sondern an der inneren Einstellung des Gläubigen. Rabbi Akiva (ca. 50-135 CE) formulierte es treffend: „Die Taten der Menschen sind wichtiger als die Opfer.“ Diese Aussage verdeutlicht, dass die Absicht und die Herzenshaltung des Gläubigen im Mittelpunkt stehen. Nicht von ungefähr war es auch Rabbi Akiva, der dafür plädierte nach der Zerstörung des 2. Tempels das Gebet an die Stelle der Opfer zu setzen. Wir können heute dadurch auch erahnen, wie sehr damals die Opfer eine echte Kommunikation mit dem Ewigen für die Gläubigen darstellten.
Unsere Opferpraktiken sind reich an Symbolik. Das Blut, das bei vielen Opfern vergossen wird, steht für Leben (oder moderner gesagt für die Seele) und die kostbare Beziehung zwischen Mensch und Gott. Etwas nach unserer Parascha heißt es im Buich Wajikra 17:11 heißt es: „Denn das Leben des Fleisches ist im Blut.“ Diese Verbindung zwischen Blut und Leben/Seele unterstreicht die Ernsthaftigkeit des Opfers und die Notwendigkeit, das eigene Leben in den Dienst Gottes zu stellen.
Die rituelle Reinheit spielt ebenfalls eine wesentliche Rolle. Die Vorschriften über die Reinheit und Unreinheit, die in Leviticus behandelt werden, zeigen, dass die Beziehung zu Gott auch eine Frage der inneren und äußeren Reinheit ist.
Obwohl wir heute keine physischen Opfer mehr darbringen, bleibt die symbolische Bedeutung von Opfern relevant. Die Idee des Opfers kann auf persönliche und gesellschaftliche Opfer im Alltag übertragen werden. Diese modernen Opferrituale spiegeln die ethischen und spirituellen Werte wider, die in den alten Texten verwurzelt sind. So stellt zum Beispiel Tzedakah (Wohltätigkeit) ein modernen Opfer dar. Die finanzielle Unterstützung für Bedürftige ist eine Form der sozialen Verantwortung und des Mitgefühls. Tzedakah betrachten wir heute oft als eine zentrale Pflicht, die zeigt, dass der Einzelne bereit ist, etwas von seinem Wohlstand zu opfern, um anderen oder der Gemeinschaft zu helfen. Wir erkennen damit an, Teil eines Ganzen zu sein, der nicht ohne Kontext existieren kann. Auch Chesed (ebenfalls mit Wohltätigkeit übersetzt) ist eine Form von Opfer in heutiger Zeit. Es bedeutet, aktive Hilfe für andere in der Gemeinschaft zu leisten. Chesed umfasst Freundlichkeit, Mitgefühl und die Bereitschaft, Zeit und Energie für andere aufzubringen. Unter den spirituellen Praktiken sind Fasten und Gebet an die Stelle der einstigen physischen Opfer getreten. Das Fasten, insbesondere am Jom Kippur, ist eine Form der Selbstdisziplin und der inneren Reflexion, die den Gläubigen hilft, sich auf ihre Beziehung zu Gott zu konzentrieren. Es symbolisiert auch den Abstand von Selbstherrlichkeit und Egoismus, der jede Beziehung - auch zwischen Menschen - schwer belastet. Das Gebet ist sicher diejenige Weiterentwicklung vom Opferkult, das die persönlichste Note und die intimste Beziehung zum Ewigen ermöglicht. Neben gemeinsamen Gebeten, von denen wir glauben, dass sie wohlwollender aufgenommen werden, gibt es vielfältige Möglichkeiten den individuellen Kontakt zum Ewigen zu suchen und Antworten auf ganz persönliche Herausforderungen zu finden. Obwohl diese individuelle Gebetspraxis viel weniger stark ausgeprägt ist, als in anderen Religionen, wird sie doch auch im Judentum immer beliebter und verbreitet sich.

Wir können also aus unserer Parascha Wajikra lernen, dass der altmodische und etwas primitiv klingende Begriff Opferkult nicht so verstaubt ist, wie er klingt. Im Gegenteil hält er auch heute für uns wichtige Konzepte bereit, die wir in den Weiterentwicklungen des Opferkultes - wie Tzedaka, Chesed, Fast und Gebet - noch heute täglich leben. Und die Parascha lehrt uns, dass wir das "wie" dabei nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten, sondern uns um Reinheit in Absicht und Durchführung bemühen sollen.
Ich höre das widerspenstige Kind sagen: Das ist doch selbstverständlich! Sonst würde man es doch gar nicht machen! - und ich antworte: Das mag sein, aber so selbstverständlich ist es wohl nie gewesen, dass es nicht in der Parascha Wajikra aufnähme in die Tora gefunden hätte. Zur Sicherheit, sozusagen.
Für das kommende Pessach wünschen wir uns alle, die innere Haltung (Nefesch) zu haben, diese "Opfer" so zu bringen, dass wir vom Ewigen und unserer Gemeinschaft gut und richtig verstanden werden. Wir werden einen Pessachseder feiern, der uns erneut tief beeindrucken wird und uns an die Dinge erinnert, die uns im Alltag allzu schnell entfallen.
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